Streit unter Veganern: Wer ist radikal genug? (2024)

Streit unter Veganern: Wer ist radikal genug? (1)

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Zwischen den Fundis und den Realos des Fleischverzichts geht es ums grosse Ganze.

Felix Hasler

5 min

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Nun bin ich also Veganer. Und das schon seit bald drei Jahren. Aber stimmt das überhaupt? Schliesslich esse ich immer noch dann und wann ein Ei. Ausserdem habe ich meine private Höhere-Gewalt-Regel aufgestellt: Kommt im Restaurant der eigentlich abbestellte Mozzarella doch auf die Pizza, esse ich sie trotzdem, weil mein Essen sonst im Müll landet. Und mein altes Ledersofa habe ich auch noch nicht entsorgt. Bei den ganz strikten Vertretern meiner neuen Community würde so viel Flexibilität jedenfalls nicht durchgehen und mein behaupteter Vegan-Status die Gewissensprüfung nicht bestehen.

Wie viel Abweichung vom Ideal einer vollständig «tierleidfreien» Lebensweise noch zu akzeptieren ist, wird unter Veganern gerade eifrig diskutiert. Am einen Ende des Spektrums tummeln sich die kompromisslosen Idealisten. In ihrer Sichtweise ist jegliche Form von Tiernutzung ein barbarischer Akt, der ohne Ausnahme abzulehnen ist.

Kompromisse sind nicht die Sache des veganen Idealisten.

Wer davon überzeugt ist, dass der Sonntagsbraten ein Verbrechen an der leidensfähigen Kreatur ist, kann es auch nicht in Ordnung finden, wenn dieses Verbrechen nur noch ein, zwei Mal im Jahr vorkommt. Kompromisse sind nicht die Sache des veganen Idealisten. Er hat viel gesehen und noch mehr gelesen und ist empört über die beschönigenden Lügen der Nahrungsmittelindustrie.

Der 100-Prozent-Veganer ist streng zu sich selbst, weil er nichts falsch machen will, und enttäuscht von der Welt, weil die überwältigende Mehrzahl seiner Mitmenschen einfach nicht einsieht, dass ihr egoistisches Verhalten Leiden, Klimawandel und Umweltzerstörung verursacht. Und weil er keine Gelegenheit auslässt, der ignoranten Nichtveganerin dies zu erklären, hat der vegane Idealist in der Öffentlichkeit das vorherrschend negative Bild eines dogmatischen und belehrenden Veganismus geprägt.

Die Rolle des Käses

Am anderen Ende des Spektrums stehen bodenständige Realisten wie der belgische Autor und «Veganstratege» Tobias Leenaert, dessen betont unaufgeregtes Buch «Der Weg zur veganen Welt» bereits zu einem Standardwerk des veganen Pragmatismus geworden ist.

Leenaert plädiert für einen «inklusiven Veganismus», der systematisch alle Hürden abbaut, die Menschen daran hindern, sich einer veganen Lebensweise anzunähern. Für den veganen Realo ist es okay, nur 90 Prozent vegan zu sein. Wenn jemand sagt: «Ich würde ja gerne vegan leben, aber ich könnte niemals auf Käse verzichten», antwortet der Pragmatiker: «Dann iss doch weiterhin Käse, aber verzichte auf alle anderen nichtveganen Produkte.»

Gesteht man sich selbst die eine oder andere Ausnahme zu, führt dies auch eher dazu, dass der (Beinahe-)Veganer langfristig auf Kurs bleibt und nicht nach ein paar Wochen aufgibt, weil sich die Umsetzung eines perfekten 100-Prozent-Veganismus als nicht praxistauglich herausgestellt hat.

Streit unter Veganern: Wer ist radikal genug? (2)

Und seien wir realistisch: Zwar hat sich auch in der Schweiz der Bevölkerungsanteil, der sich selbst als «vegan» einordnet, von 2020 bis 2022 mehr als verdoppelt. Eine Erfolgsgeschichte? Geht so.

In absoluten Zahlen ist und bleibt das eine verschwindend kleine Minderheit. Nunmehr sind es 0,7 Prozent der Befragten, 2020 waren es noch 0,3 Prozent. Darum tritt auch nicht ein, was sich viele Veganerinnen und Veganer implizit erhoffen, nämlich dass ihr Boykott tierischer Produkte in der Folge auch das Angebot senkt. Wenn noch nicht einmal ein Prozent der Konsumenten eine Sache boykottiert, passiert ziemlich genau gar nichts. Wenn Abermillionen von Omnivoren (liebevoll «Omnis» genannt) ihren Fleischkonsum deutlich einschränken, hingegen schon.

Und auch für Umwelt und Klima wären Abermillionen von «Fleischreduzierern» wahrscheinlich folgenreicher, als in den Hipster-Metropolen Berlin oder Barcelona noch ein paar tausend neue 100-Prozent-Veganer zu rekrutieren.

Trotz internen Meinungsverschiedenheiten ist die Veganbewegung sehr darum bemüht, nach aussen geschlossen aufzutreten. Wenn man schon eine Minderheit ist, sollte man seine Energie nicht noch auf interne Streitigkeiten verwenden.

«Effektiver Altruismus»

Es ist allerdings wenig zweckmässig, wenn Veganer andere Veganer nerven, indem die einen den anderen zu verstehen geben, dass nur sie die richtige Lehre vertreten. In den einschlägigen Diskussionsforen hat man sich auf die Lesart verständigt, für den Erfolg der Sache brauche es beides, die Idealisten und die Pragmatiker. Wahrscheinlich stimmt das sogar. Ohne engagierte Tierrechtsaktivisten gäbe es nicht die Flut von Bildmaterial, die das grauenvolle Elend der real existierenden Massentierhaltung dokumentiert. Wer sich noch fragt: «Warum denn vegan?», sollte sich einmal durch die Undercover-Recherche-Splatterfilme auf einschlägigen Tierrechtsportalen klicken. Man wird sein Schinkensandwich danach mit anderen Augen sehen.

Zudem sorgen vegane Strassenaktivisten wie Anonymous for the Voiceless mit ihren disruptiven Aktionsformen oder Social-Media-Stars wie die selbsternannte «militante Veganerin» Raffaela Raab mit ihren spektakulären Auftritten für mediale Aufmerksamkeit. Dass diese zumeist negativ ausfällt, ist gar nicht so wichtig, denn alles scheint besser, als den gegenwärtigen Zustand einfach als normal und unabänderlich hinzunehmen. Hauptsache, Agenda-Setting.

Die vegane Realo-Fraktion, die sich ganz dem «effektiven Altruismus» verschrieben hat, agiert derweilen eifrig, aber geräuscharm im Hintergrund. Geleitet vom Grundgedanken einer zweckorientierten Ethik, soll einfach möglichst viel Leid aus der (Tier-)Welt geschafft werden. Wirkung geht vor Ideologie.

Bei dieser pragmatischen Ethikphilosophie per Taschenrechner wird rasch klar, dass man für die Sache Kompromisse eingehen muss. Darum verhandelt der vegane Lobbyist auch mit Fleischerzeugern über den Ausbau ihres Vegansortiments und versucht, in Schulkantinen wenigstens einmal in der Woche ein rein pflanzliches Essen auf den Speiseplan zu bringen. Dass sich dieses Vorgehen in der Praxis bewährt, zeigt uns die Fleischwirtschaft. Fast jeder grosse Fleischproduzent hat jetzt auch vegane Alternativen im Sortiment. Einfach deshalb, weil Veganismus im Trend liegt und sich mit Fleischersatzprodukten Geld verdienen lässt. Man kann also, vegandogmatisch formuliert, auch aus den falschen Gründen das Richtige tun. Auch darum ist es heute so einfach wie noch nie, vegan zu leben.

Karnivoren in der Defensive

Auch den Veganern ist bewusst, dass sie ein Imageproblem haben. Das hat einerseits mit dem zwar gutgemeinten, aber letztlich abschreckenden Auftreten der dogmatischen Idealisten zu tun. Es hat aber auch damit zu tun, dass die meisten Nichtveganer noch nicht mitbekommen haben, dass sich auch die Szene selbst in den letzten Jahren gewandelt hat.

Die Vorstellung, alle Veganerinnen und Veganer seien nervige und moralinsaure Asketen, ist genauso falsch wie das hoffnungslos veraltete Klischee vom bleichen Ökoveganer, der mit dem Jutebeutel aus dem Reformhaus schlurft.

Der neue Veganismus ist jung, selbstbewusst, vorwiegend weiblich, urban und gebildet. Gebildet bis elitär, möchte man sagen. So liess im Februar dieses Jahres die Studierendenvertretung der englischen Überflieger-Universität Cambridge verlauten, dass ihre Studentenschaft mit einer Mehrheit von 72 Prozent beschlossen habe, in ihren Kantinen künftig ausschliesslich vegane Produkte auf der Speisekarte haben zu wollen.

Auch nicht zu vergessen: die aufregende Welt des «vegan dating», ins Leben gerufen von «Vegansexuellen», die es vorziehen, mit anderen Veganerinnen und Veganern zu schlafen.

Für den Vertreter der neuen «vegan coolness» gehört Veganismus ganz selbstverständlich zu einem zeitgemässen und bewussten Lebensstil, ohne daraus eine grosse Sache zu machen. Auch nicht zu vergessen: die aufregende Welt des «vegan dating», ins Leben gerufen von «Vegansexuellen», die es vorziehen, mit anderen Veganerinnen und Veganern zu schlafen. Auch dort, so sagt man, soll es alles andere als asketisch zugehen.

Apropos Fleischeslust: Auch für «Beef!», das Hochglanz-Hardcoremagazin der leidenschaftlichen Karnivoren, war im Mai dieses Jahres Schluss. Im Editorial der letzten Ausgabe war zu erfahren, dass nicht zuletzt ein neues Verhältnis der Menschen zum Fleischkonsum für das Ende des Blatts verantwortlich sei.

Darüber, so viel ist sicher, haben sich die Veganerinnen und Veganer aller Fraktionen gefreut.

Felix Hasler hat 2021 für die «NZZ am Sonntag» das Ethikbuch «Was sich am Fleisch entscheidet» besprochen. Das dort Gelesene hat ihm den Appetit auf Tierprodukte verdorben.

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